2010 Regula Ochsner

Geboren am 25. Mai 1951, arbeitete nach Ab-schluss ihrer Ausbildungen als Kindergärtnerin und Sozialpädagogin und wirkte während vielen Jahren als Rotkreuzdelegierte und als Entwicklungshelferin des DEZA. 1999 initiierte und führte Regula Ochsner in Madagaskar das Entwicklungsprojekt für erneuerbare Energie «ADES, Association pour le Développement de l'Énergie Solaire Suisse-Madagascar», gründete und präsidierte 2001 in der Schweiz den gemeinnützigen Unterstützungsverein ADES.
Bei Erscheinen dieses Buches produziert ADES an acht Standorten jährlich 50000 Energiespar-kocher und Solarkocher, beschäftigt rund 150 Mitarbeitende und vertreibt ihre Produkte über ein Netz von rund 100 Verkäuferinnen. Mit dem Einsatz ihrer Produkte hat ADES bei myclimate über 1,8 Millionen Tonnen CO2 kompensiert.
In Würdigung ihres grossen Einsatzes für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung durch eine wegweisende und beispielhafte Verbreitung der Nutzung der Solarenergie in Madagaskar.

Laudatio

Jürgen Oelkers

Als Preisträgerinnen und Preisträger der Stiftung Dr. J. E. Brandenberger werden Schweizer Bürgerinnen und Bürger geehrt, die — so heisst es im Stiftungszweck:

«Unter grösstem Einsatz ihrer Person und ihrer Möglichkeiten als Lebensaufgabe sich um das Wohl der Menschheit besonders verdient gemacht haben».

Wer sich einer Lebensaufgabe widmet, tut dies für gewöhnlich an einem bestimmten Ort. Lebensaufgaben bewältigt man nicht mit flüchtigen Aufenthalten in rasch wechselnden Lokalitäten, was ja vielleicht modern sein mag, aber für ein ganzes Leben wenig ernsthaft wäre. Der Ort der diesjährigen Preisträgerin ist die Insel Madagaskar, gesehen vor dem Hintergrund einer lebenslangen Leidenschaft, die in den letzten zehn Jahren den Charakter einer humanitären Mission angenommen hat.

Wer meiner Generation angehört und in Deutschland gross geworden ist, verbindet mit «Madagaskar» ein Lied, das in der Schule, bei den Pfadfindern oder auch in den Jugendbünden gesungen wurde. Das Lied handelt von einem verlorenen Schiff, das die Pest «an Bord hatte», in dessen Kesseln das Wasser «faulte» und von dessen Matrosen täglich einer «über Bord» ging. Madagaskar, die Insel, kam gar nicht vor; das Lied konzentriert sich auf das Schicksal der Mannschaft, die an Durst leidet, verseuchtes Wasser trinken muss und dann mit einem «Ahoi Kameraden» im «Seemannsgrab» endet.

Wir lagen vor Madagaskar' handelt also nicht von Madagaskar; die ferne Insel im Indischen Ozean ist nur eine Allegorie, keine konkrete Vorstellung. Mit der Allegorie lässt sich das Grauen steigern, das die Matrosen vor Augen haben. Wer fern von der Heimat «vor Madagaskar» liegt, ist schon verloren. Das einzig Konkrete im Lied ist das Riff, auf das das Schiff läuft und dem die Matrosen so zum Opfer fallen. Ein «Riff» ist ein Symbol für eine tückische Gefahr der Seefahrt und zugleich für die Unzugänglichkeit des dahinterliegenden Landes. Im übertragenen Sinne schützen Riffs heute die Touristen in ihren Ghettos, das Land dahinter bleibt unzugänglich.

Die Insel Madagaskar hat eine zweitausend Jahre alte eigene Geschichte, die lange durch die Kolonialzeit verdeckt wurde. Von ihr ist das heutige Land immer noch geprägt, das sich erst allmählich auf sich selbst besinnen konnte. Kolonialmacht war seit 1896 Frankreich, das Madagaskar wie alle anderen seiner Kolonien systematisch ausbeutete, mit dem Betrieb von Grafit- und Glimmerminen, mit Kaffeeplantagen und auch mit Reisanbau. Die Gewinne kamen ausschliesslich französischen Unternehmen zugute. Die Ausbeutung zeigte sich nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch.

•    Mit dem «Code de l'indigénat» hatte Frank-reich seit 1875 zunächst in Algerien und dann in allen Kolonien ein eigenes Recht eingeführt.
•    Der Code betrachtete die einheimische Bevölkerung als französische «sujets» ohne bürgerliche Rechte.
•    Staatsbürger in den Kolonien waren nur die europäischen Siedler und die Angehörigen der französischen Verwaltung.

Der Code de l'indigénat wurde erst am 15. Dezember 1945 ausser Kraft gesetzt. Im gleichen Jahr wurde auf Madagaskar der «Mouvement démocratique de la rénovation malgache» (MDRM) gegründet. Im März 1947 kam es im Norden der Insel zu einem Aufstand gegen die französische Militärmacht, die Rebellen nahmen ein Gebiet von der Grösse der Schweiz unter ihre Kontrolle und setzten eine eigene Regierung ein. Frankreich schickte daraufhin die Fremdenlegion, die schon zwischen 1895 und 1905 im Einsatz war, erneut nach Madagaskar. Die Truppe umfasste 18000 Soldaten, die den Aufstand mit brutalen Mitteln niederschlugen und bis Ende 1948 mehrere zehntausend Madagassen töteten. Erst am 26. Juni 1960 wurde die Insel unabhängig.
In der Vorstellungswelt des Kolonialismus war das «Ferne» nicht nur das «Fremde», sondern zugleich das europäisch Fantasierte. Es waren stets europäische Projektionen, die über die Kolonien entschieden haben, getrieben von einer Ökonomie, die von der hemmungslosen Ausbeutung der Ressourcen lebte, der menschlichen wie der materiellen. Das lateinische Verb colere lässt sich nicht nur mit «bebauen», sondern auch mit «Land nehmen» übersetzen. Kolonien konnte es nur geben, weil fremdes Land besetzt und kulturell entfremdet wurde. Ein Symbol dafür waren nicht zufällig Briefmarken.

Der Kolonialherrschaft im 19. und 20. Jahrhundert war jeder Gedanke an Nachhaltigkeit fremd. Die Natur war Objekt, nicht der Pflege, sondern der Bereicherung. Das erklärt vielleicht manchen bleibenden Schaden, mit dem die ehemaligen Kolonien bis heute leben müssen. Sie werden nicht zufällig als «Drittweltländer» bezeichnet, als seien sie von Haus aus minderwertig, während sie einfach nur mit den historischen Spätfolgen der Fremdherrschaft leben müssen. Madagaskar hat seit der Unabhängigkeit drei verschiedene Republiken erlebt und ist immer wieder von Unruhen und Putschversuchen heimgesucht worden. Die Eliten haben das Land bis heute nicht stabilisieren können.

Gerade die europäische Geschichte zeigt, wie mühsam es war und wie lange es gedauert hat, Zivilität zu lernen und fremde Kulturen im Rahmen der Menschenrechte anzuerkennen. Im 19. Jahrhundert wollten die europäischen Gross-mächte die Welt unter sich aufteilen. Die Kolonien waren billige Rohstofflieferanten für die expandierende Industriegesellschaft. Die Bevölkerung konnte gezielt missachtet werden. Erst zwei Weltkriege zeigten, wohin diese globale Ausbeutung führt.

Im März 1947 bin ich geboren worden. Wir la-gen vor Madagaskar begleitete mich während der Schulzeit, ohne dass wir je angehalten worden wären, über das Land Madagaskar und die Kolonialzeit nachzudenken, was doch eigentlich nahegelegen hätte. Die Unabhängigkeit des Landes fiel in meine Schulzeit, aber war nie ein Thema, wie überhaupt Afrika in der Schule nicht vorkam. Die Geschichtsbücher endeten, wenn sie überhaupt Europa behandelten, in Sizilien oder am Bosporus.

Auch das Lied selbst wurde nicht erklärt, sondern nur gesungen. Das Lied wird bis heute der deutschen Jugendbewegung vor und nach dem Ersten Weltkrieg zugeschrieben. Aber es ist die Komposition eines deutschen Schlagerkomponisten. Geschrieben wurde das Lied 1934 von dem Schauspieler und Moderator Just Scheu. Wir lagen vor Madagaskar wurde danach zu einem Standardlied der Gesangbücher in der Hitler-Jugend. Madagaskar gehörte bekanntlich zu den Siedlungsplänen der Nationalsozialisten, die wiederum auf Vorstellungen der Kolonialzeit aufbauten.

Das Bild von «Afrika» wurde im 19. Jahrhundert geprägt durch sogenannte «Afrikaforscher», die den Kontinent und die umgebenden Inseln zu entdecken vorgaben und ihn doch nur für die Kolonialmächte erschlossen. Es ging bei der «Forschung» fast nur um die Wasserwege, die Bodenschätze und günstige Siedlungsräume für die Europäer, die ohne Rücksicht auf die autochthonen Kulturen angeeignet wurden. In Madagaskar beendete der zweite Franco-Hovar Krieg nach 103 Jahren die Merina-Monarchie und die französische Gesetzgebung tat so, als hätte diese lokale Geschichte keine Bedeutung und als sei Madagascar immer schon französisches Siedlungsgebiet gewesen, das kein angestammtes Recht zu akzeptieren brauchte.

Auch das erklärt, warum Madagaskar in dem Lied nicht vorkommt, es schien historisch ohne eigene Bedeutung zu sein und war lediglich geo-politisch von Interesse, ein Stützpunkt mit Sied-lern, aber kein Land mit mehr als «Untertanen». Die Geschichte wurde allein aus europäischer Sicht wahrgenommen, mit einer imperialistischen Siegermentalität, die alle Kolonialmächte und nicht zuletzt deren Historiker charakterisiert hat. Selbstbewusstsein konnte erst mit Unabhängigkeit aufgebaut werden, doch das Land tut sich bis heute schwer mit seiner Rolle.

Die Ideologie des Kolonialismus lieferte der französische Diplomat Arthur de Gobineau, der in seinem Essai sur l'inégalité des races humaines (1853 —1855) die Überlegenheit der «weissen» oder der «nordischen» Rasse begründete. Gobineau ging von drei «Ur-Rassen» aus, die eine Hierarchie bilden; die schwarze Rasse nahm dabei den unteren Rang ein. Gobineau sagte auch, dass sich Rassenmischungen immer zum Nachteil der höheren auswirken würden. Man sieht, wo die Apartheit ihren Ursprung hat und wie gefährlich es ist, in der Beurteilung der Geschichte von «Rassen» auszugehen.
 
Deutsche «Afrikaforscher» wie etwa Hermann von Wissmann, von dem es vier grosse Denkmäler gibt und nach dem viele Strassen benannt worden sind, begründeten das Bild des europäischen Herrenmenschen, der die Kolonien oder die «Schutzgebiete», wie sie in Deutschland hiessen, «zivilisiert» und vom «Aberglauben» befreit hat. Tatsächlich ist die Geschichte der Kolonialisierung eine der politischen Unterjochung, der ökonomischen Ausbeutung und der christlichen Mission. Wissmann, der zeitweise Gouverneur von Deutsch-Ostafrika war, verantwortete ein Massaker in Tansania, dem rund 300´000 Einheimische zum Opfer fielen. Die heutigen Konflikte in Zentralafrika haben so deutlich kolonialgeschichtliche Wurzeln.

Aber nicht nur die unfassbar brutalen Kriege haben Vorläufer, sondern auch die Repression, die Ausbeutung und die Bildungsnot haben sich in vielen ehemaligen Kolonien fortgesetzt. Madagaskar gehört seit Jahrzehnten zu den zehn ärmsten Ländern der Erde.

•    Die Bevölkerung wächst schnell, die Hälfte der Bewohner der Insel ist heute unter 20 Jahre alt.
•    Die Fruchtbarkeitsrate liegt bei fünf Kindern pro Frau.
•    Die Säuglingssterblichkeit beträgt 74 pro 1000 Lebendgeburten.
•    Die durchschnittliche Lebenserwartung der Frauen lag 2007 bei 61,5 und der Männer bei 58,3 Jahren.
•    Auf 100’000 Personen kommen rund 30 Ärzte.
•    Nicht einmal jeder zweite Einwohner hat Zugang zu sauberem Trinkwasser.

Im Jahre 2000 waren 26 Prozent der männlichen und 40 Prozent der weiblichen Bevölkerung Analphabeten, nur 12 bis 14 Prozent der Kinder besuchen eine Sekundarschule, die kostenpflichtig ist und im Ruf steht, die Kinder von der Arbeit abzuhalten. Das ist kein nebensächliches Datum: Erst der Besuch der Sekundarschule hat in der Geschichte der Bildung dazu geführt, die Kinderarbeit wirksam bekämpfen zu können. In Europa ist das keine hundert Jahre alt.

Ein Angebot öffentlicher Bildung im Primarschul-bereich existiert nicht in allen Regionen Madagaskars. Der arme Westen und Süden der Insel ist von der Regierung vernachlässigt worden und muss mit Privatschulen vorlieb nehmen, wenn es überhaupt Bildungsangebote gibt. Und in den öffentlichen Schulen herrscht Mangelwirtschaft, es fehlt am Nötigsten.

Im Internet kursieren daher Aufrufe wie dieser:
 
«If you are travelling around Madagascar by road, stock up on pens, pencils and notebooks and whenever you pass a ramshackle school stop in and make a donation. lt will be appreciated, and will make a difference».

Wie soll man einem solchen Land mit maroden Schulen, einem kaum existenten Gesundheitswesen und alltäglicher Korruption helfen? Mehr Geld war jahrzehntelang die Antwort der globalen Spieler in dem Bereich, der früher «Entwicklungshilfe» genannt wurde und heute «Entwicklungszusammenarbeit» heisst, um den semantischen Rest von Kolonialismus zu beseitigen.

Freilich ist immer noch von «Entwicklungsländern» die Rede, also von einer einseitigen Bedürftigkeit, die auch tatsächlich gegeben ist. Madagaskar muss und kann nicht der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich «helfen», notwendig ist das in umgekehrter Hinsicht, wobei die ökonomischen Folgen der Kolonialzeit nicht verrechnet werden dürfen. Das Land selbst ist heute immer noch tief korrupt.
 
•    Madagaskar stand im Jahre 2002 auf dem 98. Platz von 102 möglichen Plätzen des Corruption Perception Index Rankings, das Transparency International veröffentlicht.
•    Seitdem unternimmt die Regierung etwas gegen die Korruption und konnte die Werte verbessern, allerdings nicht die Position.
•    2009 lag Madagaskar auf dem 99. Rang von nunmehr 180 Ländern.

Die Vereinten Nationen haben 1970 als Ziel formuliert, dass die Industrieländer 0,7 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) für die damals noch so genannte «Entwicklungshilfe» aufwenden sollen. Das Ziel, das 2002 erneuert wurde, ist nie auch nur annähernd erreicht worden.

•    Die ehemalige Kolonialmacht Deutschland hat im Jahre 2004 lediglich 0,28 Prozent des BIP für Entwicklungszusammenarbeit aufgebracht,
•    bei anderen Kolonialmächten wie Grossbritannien betrug die Zahl 0,24 Prozent
•    und bei den Vereinigten Staaten sogar nur 0,14 Prozent.

Die Geberländer insgesamt haben im Jahre 2007 0,28 Prozent des BIP für den Zweck der Entwicklungszusammenarbeit aufgebracht. Zwei weitere Zahlen lassen die Dimensionen erkennen:

•    Im Jahre 2007 betrug die Summe, die insgesamt für Entwicklungszusammenarbeit aufgewendet wurde, 103,7 Milliarden US Dollar.
•    Im Jahr zuvor gaben die Mitgliedstaaten der OECD 268 Milliarden US-Dollar für Subventionen ihrer Landwirtschaft aus.
•    
Das Ziel der Vereinten Nationen haben bis heute nur Dänemark, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen und Schweden erreicht. Von diesen Ländern haben allein die Niederlande eine kolonialistische Vergangenheit, sieht man einmal von der historischen Mission Dänemarks in Grönland ab. Meistens werden die fünf genannten Länder in der Öffentlichkeit als vorbildlich hinge¬stellt, während für die anderen «Geberländer» nur der Pranger übrig bleibt.

Aber wie wichtig ist Geld? Das Problem stellt sich nicht nur dort, wo die selbst gesetzten Ziel-margen unterschritten werden und ein negatives Ranking entsteht. Das grössere Problem bezieht sich auf den Einsatz der Gelder, also das, was damit tatsächlich angefangen wird. Im Juni 2005 hielt der Report Real Aid: An Agenda for Making Aid Work über die Richtung und Struktur der Hilfeleistungen Folgendes fest:

«Failure to target aid at the poorest countries, ru-naway spending on overpriced technical assis¬tance from international consultants, trying aid to purchases from donor country's own firms, cumbersome and ill-coordinated planning, im-plementation, monitoring and reporting require-ments, excessive administratrive costs, late and partial disbursements, double counting of debt relief, and aid spending on immigration services all deflate the value of aid».

Das Geld wird also nicht wirklich zielführend eingesetzt, dient verdeckt mehr den Geber- als den Nehmerländern, der Aufwand an Beratung in Form von Kursen steht in keinem Verhältnis zum Ertrag, der Mitteleinsatz wird kaum überwacht, daher ist unbekannt, was genau den Ertrag der Entwicklungszusammenarbeit ausmachen soll und benötigt wird dafür eine exzessive Administration.

Real Aid hat daher den Begriff «Phantomgeld» geprägt, das zwar gesprochen, aber überwiegend nicht zur konkreten Hilfe vor Ort eingesetzt wird. So sollen nur 10 Prozent der französischen oder amerikanischen Hilfsgelder die Menschen in den Entwicklungsländern wirklich erreichen.
 
Selbst wenn es sich dabei um eine politische Zahl handelt, mit der Druck gemacht werden soll, das Problem ist evident: Die blosse Erhöhung der öffentlichen Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeit wird an der Struktur der Mittelverteilung nichts ändern und würde falsche Anreize setzen. Mehr Geld verlangt bessere Projekte und weniger Korruption — Aber was sind in der Entwicklungszusammenarbeit gute Projekte?

Madagaskar ist die viertgrösste Insel der Welt, die manchmal auch der «sechste Kontinent» genannt wird. Mit Afrika hat die Insel weder geologisch noch ökologisch etwas zu tun, sie hat über Jahrmillionen eine Pflanzen- und Tierwelt entwickelt, die in der Welt einzigartig ist. Das heutige Land hat eine touristische und eine reale Seite. Das ökologische Gleichgewicht der Insel ist durch das starke Bevölkerungswachstum und die grosse Armut massiv bedroht.

•    2009 zählte die République de Madagascar 20 653 556 Einwohnerinnen und Einwohner.
•    1961 waren es keine sechs Millionen,
•    aber 1999 schon 15 Millionen.

Die Bevölkerungspyramide zeigt das genau umgekehrte Bild wie in den alternden Gesellschaften Europas und Japans. Der Bauch ist unten und nicht oben, was auf einen ungeheuren Ernährungsdruck schliessen lässt. Eine Antwort ist Brandrodung und Abholzung der Wälder. Für die Gewinnung von Ackerland werden die Wälder gerodet, Holzkohle wird zum Kochen auch in den Städten verwendet, weil der Strompreis unerschwinglich ist. Die Folgen sind Bodenerosion, die zunehmende Ausbreitung von Savannen und ein an manchen Stellen dramatisches Absinken des Grundwasserspiegels.

Vor der europäischen Besiedlung, die im 17. Jahrhunderts begann, war die Insel wohl komplett bewaldet, wobei dem tropischen Regenwald in der Nähe der Küsten eine besondere ökologische Bedeutung zukam. Schätzungen laufen da-rauf hinaus, dass von den Regenwaldflächen des Landes nur4 Prozent übrig geblieben sind. Heute bedecken Savannen zu fast 90 Prozent den Boden der Insel, der Wald kehrt nicht in die Brach-flächen zurück, Wiederaufforstungsversuche seitens der Regierung waren bisher weitgehend erfolglos, auf der anderen Seite brennen Viehhirten immer wieder die Savanne ab, was Gräser nachwachsen lässt, die wohl resistent sind, aber zugleich auch arm an Nährstoffen. Wie hilft man nun einem solchen Land?

Gute Ideen sind einfache Ideen, sie «zünden», wie man sagt, weil sie eine unmittelbar einleuchtende Problemlösung darstellen, deren Nutzanwendung man sich sofort vorstellen kann. Man muss nur darauf kommen. Die kreative Lösung verknüpft auf unerwartete Weise zwei Fäden eines Problems und zeigt sich zuerst als Intuition einer Wendung des Denkens in eine neue Richtung. Die Bevölkerung von Madagaskar verbraucht Energie von einem Energieträger, der sich in den nächsten Generationen kaum wird erneuern lassen und dessen weitere Dezimierung die Abwärtsspirale des Ökosystems weiter beschleunigen wird.

•    Aber warum muss man mit Holzkohle kochen und so den Wald endgültig vernichten?
•    Und was wäre eine einfache Lösung, die die Bevölkerung auch wirklich nutzen kann?

Bevor ich die beiden Fragen beantworte, stelle ich Ihnen die diesjährige Preisträgerin vor. Genauer: Ich stelle Ihnen eine Persönlichkeit vor, die drei Leben hat, eines als Pädagogin, eines als Entwicklungshelferin und eines als Familientherapeutin. Regula Ochsner ist ausgebildete Kindergärtnerin mit einem Diplomabschluss am ehemaligen Evangelischen Kindergärtnerinnenseminar in Zürich. Ihr erstes pädagogisches Leben hat sie in der aargauischen Gemeinde Othmarsingen zugebracht, wo sie den ersten Kindergarten aufgebaut hat. Kindergärten waren damals noch längst nicht so unumstritten wie heute im Zeitalter der Frühförderung, das sollte gerade angesichts neuer Volksschulkampagnen mit einem konservativen Familienbild festgehalten werden.

Frau Ochsner hat sich dann 1972 zur Entwicklungshelferin ausbilden lassen und war danach drei Jahre lang für die Eidgenossenschaft in Tu-léar tätig. Hier hat sie nicht nur das Zentrum für «Animation rurale» aufgebaut und geleitet, sondern auch ihre Leidenschaft für das Land entdeckt. «Leidenschaft» ist ein grosses Wort, aber anders hätte die Geschichte, die ich gleich erzählen werde, nicht stattfinden können. Sie ist geprägt nicht nur von Engagement, sondern von einer Passion.

Von 1975 an hat Frau Ochsner an der Schule für Soziale Arbeit in Zürich studiert und die Ausbildung 1978 mit einem Diplom abgeschlossen. Sie ist also auch Sozialpädagogin, und sie hat — wie
viele in diesem Berufsfeld — das Pädagogische in Richtung Therapie erweitert. Ich weiss, dass die Therapeutenverbände diese These der «Erweiterung» für gewagt halten, weil sich «Therapie» und «Erziehung» unterscheiden sollen, aber Berufskarrieren verlaufen bekanntlich oft anders, als die Berufsverbände dies gerne hätten.

Nach ihrer Lehranalyse in Gestalttherapie und ihrer Ausbildung am Institut für Ehe und Familie in Zürich war Frau Ochsner viele Jahre lang als Therapeutin tätig, hat sich daneben in der Elternbildung engagiert, ist in der Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern bekannt geworden, war in vielen Feldern Supervisorin und hat immer wieder Aufgaben auch in der Erwachsenenbildung wahrgenommen. Sie hat den Verein der Ehe- und Familientherapeuten der Schweiz mitbegründet und war lange Jahre Präsidentin dieses Vereins. Sie liebt das Bergsteigen und ihren Garten und ihr besonderes Engagement gilt dem Frauenforum der Gemeinde Offenbach im Kanton Zürich, wo Frau Ochsner auch ihren Wohnsitz hat. Und sie setzt sich praktisch für die Solarenergie ein.

Von 1972 bis 1975 war sie zum ersten Mal in Madagaskar. Die damalige Schweizer Entwicklungshilfe entsandte sie nach Port Tuléar oder Toiliara im Südwesten der Insel, heute eine Stadt von rund 115 000 Einwohnern und umgeben von einer wuchernden Agglomeration, die typisch ist für die urbanen Regionen des Landes. 1975 betrug die Einwohnerzahl von Tuléar noch weniger als die Hälfte. Frau Ochsner kehrte 1998 nach Madagaskar zurück und hat mehrfach selber beschrieben, wie schockiert sie war über den Wandel. «Das ist nicht mehr meine Insel», sagte sie. Ganze Wälder waren verschwunden, die schnelle Urbanisierung führte zu keiner Veränderung des Verhaltens in der Bevölkerung und die Natur schien nur zur kurzfristigen Verbesserung der Ernährungssituation interessant zu sein, ohne die langfristigen Folgen einer negativen Nachhaltigkeit vor Augen zu haben.

An dieser Stelle kommen Eduard Probst und seine Frau Verena ins Spiel. Herr Probst war ausgebildeter Schreiner und arbeitete lange Zeit als Sozialarbeiter in der Gemeinde Hölstein im Kanton Basel-Landschaft. Zusammen mit seiner Frau entwickelte er einen Solarkocher, dessen Prinzip jedes Kind vom Brennglas her kennt. Als Kind lernt man, zum Leidwesen der Eltern, dass sich mit Sonne wunderbar zündeln lässt. Horace Bénédict de Saussure aus Genf lieferte 1783 die theoretischen Grundlagen, wie Sonnenwärme für das Erhitzen von Wasser genutzt werden kann, durch Glas nämlich. Unter Glas entwickeln sich leicht Temperaturen zwischen 160 und 220 Grad Celsius, mit denen man sowohl Kochen als auch Garen kann.

Madagaskar hat eine Sonneneinstrahlung von über 245 Watt pro Quadratmeter, gemessen über das Jahr. Was also lag näher, als beide Problemfäden miteinander zu verknüpfen, die gigantische Verschwendung von Holz und die frei zugängliche Sonnenenergie?

•    Das «Missing Link» war in diesen Falle der Solarkocher, eine einfache Idee, für die sich seinerzeit niemand interessierte, auch weil niemand damit eine Umweltkatastrophe wie in Madagaskar in Verbindung brachte.
•    Was man zum Betrieb des Solarkochers braucht, ist eine gut isolierte Holzkiste, einen Glasdeckel und einen Reflektor.

Eduard Probst, der das Prinzip 1983 entwickelte, hat seinen Kocher von 1984 an in Afrika und Asien selbst ausprobiert, heute ist die Idee absolut preiswürdig und blamiert die etablierte Entwicklungszusammenarbeit. «Wer hat's erfunden?» könnte man in Anlehnung an eine bekannte Fernsehwerbung auch fragen.

Regula Ochsner suchte im Anschluss an ihre Rückkehr in die Schweiz nach Möglichkeiten, wie man kochen kann, ohne an brennbare Materialien gebunden zu sein. Das Problem war ebenso elementar wie schwerwiegend. Ein Land wie Madagaskar würde innerhalb kürzester Zeit seine Lebensgrundlage verlieren, wenn sich die Kochgewohnheiten der Bevölkerung nicht änderten. Die Lösung des Problems war der Solarkocher von Eduard Probst, den Frau Ochsner nach einigem Suchen kennenlernte. Herr Probst hatte bis 1998 verschiedene Entwicklungsländer bereist und erkannte sofort, welche Chancen sich mit dem Projekt in Madagaskar verbanden.
 
Im Herbst des Jahres 2000, also vor genau 10 Jahren, wurde der erste Container mit Bausätzen für 500 Solarkocher nach Madagaskar verschifft. Im Dezember 2000 trafen Regula Ochsner, Eduard und Verena Probst sowie zwei weitere freiwillige Helfer aus der Schweiz in Tuléar ein, dem Ort, wo die Leidenschaft für Madagaskar begonnen hat. Die Leidenschaft war inzwischen auch vom Mitleiden gekennzeichnet. Nach zähen Auseinandersetzungen mit der Bürokratie konnte das Projekt vor Ort begonnen werden. Eduard Probst zeigte zwei madagassischen Schreinern, wie man einen Solarkocher zusammenbaut. So elementar kann Entwicklungszusammenarbeit sein, wenn man sie selbst in die Hand nimmt und die Effekte kontrollieren kann.

Dafür braucht es eine materielle Basis und die Or¬ganisation von Unterstützung. Im März 2001 gründete Regula Ochsner die «Association pour le Dévelopment de l'Energie Solaire» (ADES), ein privater Verein mit Sitz in Tuléar. Bereits zuvor war in der Schweiz der Förderverein für Solarkocher (FSK) gegründet worden. In Tuléar wurde Land gekauft und dort entstand eine Schreinerwerkstatt. Politische Unruhen verzögerten den konkreten Beginn des Projekts. Erst im Frühling 2004 wurde die Schreinerwerkstatt eingeweiht, zusammen mit einem Verkaufsraum und einem Wächterhaus. Die Werkstatt war und ist auch ein Zentrum für erneuerbare Energien. Der Verein ADES schloss einen Vertrag mit der Provinzregierung von Tuléar zur Förderung alternativer Energien ab.

Auf dieser Linie beginnt eine Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält. «Erfolgsgeschichte» heisst nicht eine problemfreie Entwicklung, die in einem Entwicklungsland wie Madagaskar grundsätzlich nicht möglich ist. Mit Rückschlägen muss man ständig rechnen, auch weil das politische Umfeld keineswegs die Stabilität hat, die wünschenswert wäre und weil Hilfe zur Selbsthilfe eher eine fremde Vorstellung ist. Unmittelbarer Verbrauch ist angesichts der erdrückenden Armut auch naheliegender als Nachhaltigkeit.

Was das Projekt leistet und wie es unterstützt wird, lässt sich an zwei Schlaglichtern zeigen. Das eine hat mit einem Container zu tun und das andere mit einem Gebäude. Am 4. November 2005 wurde vom Basler Rheinhafen Birsfelden aus ein grosser Container nach Tuléar verschifft, der mit Bausätzen für Solarkocher, Maschinen und Werkzeugen beladen war. Der Transport des Containers wurde von der Stiftung Madagas-Care «Spediteure mit Herz» übernommen, die Gelder wurden von den Mitgliedsfirmen der SPEDLOGSWISS gespendet. Die Ladung des Containers wurde gekauft mit Hilfe einer Spendenaktion der fünf Rotary Clubs des Kantons Zug sowie mit Geldern der beiden Hilfsorganisationen ADES und FSK. Hier zeigte sich Schweizerische Solidarität mit einem Entwicklungsland in der denkbar konkretesten Form.

Das andere Beispiel geht aus von einem Gebäude, nämlich das neu entstandene lokale Zentrum für Solarkocher in der Gemeinde Ejeda in Madagaskar. Es gibt dort kein öffentliches Stromnetz, so dass mit einer eigenen Photovoltaik-An-lage Strom erzeugt werden muss. Im Mai 2006 wurde mit der Produktion und Verbreitung von Solarkochern auch in dieser Region begonnen, die einfache Idee konnte sich im Umkreis von 150 Kilometern weiterverbreiten. Beide Geschichten gehören insofern zusammen, als der Container aus Birsfelden erst am 30. März 2006 nach wiederum heftigen Auseinandersetzungen mit den Behörden von der Zollverwaltung entgegengenommen werden konnte.

Ende 2008 sieht die bisherige Bilanz des Projekts wie folgt aus: Seit Beginn wurden 4000 Solarkocher verkauft, davon allein im Jahr 2008 1500. Die Nachfrage steigt ständig. Das Projekt bietet auch neue Produkte an. Eines davon ist das «Solardorf St. Augustin». St. Augustin ist ein Fischerdorf etwa 35 Kilometer südlich von Tuléar. Der Verein ADES ermöglicht 80 Familien eine Elektrifizierung zum Betrieb von Lampen, Radios sowie für öffentliche Gebäude, vor allem für das Krankenhaus und die Geburtsstation. Damit trägt Solarenergie über den Kocher hinaus zur Entwicklung des Landes bei.

Das Zentrum in Tuléar musste im Sommer 2009 für einige Monate geschlossen werden, weil es Probleme mit dem Personal gab. Im August 2009 erfolgte die Wiedereröffnung. Das Personal ist entsprechend nachqualifiziert oder neu eingestellt worden. Im gleichen Monat begann das neue Projekt «Tausend Solarkocher für Madagaskar», das vom Rotary Club Zürich Oberland sowie weiteren Sponsoren unterstützt wird. Im Dezember 2009 stellte ADES die ersten 30 Energiesparöfen her und begann mit der Testphase. Auch das ist eine sinnvolle Erweiterung der Produktpalette.

Der schweizerisch-madagassische Verein ADES, den Regula Ochsner ins Leben gerufen hat, verfolgt ein langfristiges Ziel. Die Vision ist, dass in 20 bis 40 Jahren ein Grossteil der Bevölkerung im südlichen Teil der Insel Madagaskar ihre Nahrung hauptsächlich mit Solarkochern zubereitet, also innerhalb einer Generation die Verhaltensgewohnheiten grundlegend verändert. Der Verein vertritt folgende Projektziele:

•    Beitrag zur Erhaltung der wertvollen Flora und Fauna Madagaskars
•    Schutz des noch intakten Bodens zur Sicherung der Lebensmittelproduktion
•    Verbreitung der Solarkocher auf dem Land und in den Städten
•    Beitrag zur Bekämpfung der Armut durch Entlastung des Finanzhaushaltes der Familien  
durch Einsparung von Ausgaben für Holz, Holzkohle, Petrol und Gas
•    Verkauf der Solarkocher dank Spendengeldern zu einem für die arme Bevölkerung erschwinglichen Preis
•    Sensibilisierung der Bevölkerung für Umweltthemen
•    Verbesserung der gesundheitlichen Lebensbedingungen dank umweltfreundlichem Kochen ohne Russ
•    Reduktion der CO2 Emissionen. Einsparung pro Kocher jährlich 2,9 to CO2

Regula Ochsner, die seit Juli 2009 die Geschäftsleitung von ADES übernommen hat, wird «Madame Solaire» genannt, zu Recht, wenn man ihr Engagement und ihre Solidarität mit Madagaskar vor Augen hat, einem Land, dem sehr wohl geholfen werden kann und dies mit modernen Mitteln, die sich vor Ort als praktisch erweisen und die dem Land ökologisches Denken nahebringen. Man kann übrigens auch spenden: mit 120 Schweizer Franken finanziert man die Gesamtkosten eines Solarkochers, die Herstellung ebenso wie die Verbreitung, und mit 60 Franken unterstützt man die Herstellung eines Solarkochers für eine Familie.

Der Zürcher «Tagesanzeiger» hat Frau Ochsner im März 2007 anlässlich einer Preisverleihung in Paris gefragt, wo sie sich wohler fühle, «im Urwald von Madagaskar oder in der Grossstadt Paris». Vielleicht sollte der Tagesanzeiger seinen Lokalredakteuren einen Kurs in Sachen Drittweltökologie abverlangen, auf jeden Fall war die Antwort eindeutig: «Ganz klar in Madagaskar». Zur heutigen Preisverleihung sagte Regula Ochsner im Vorfeld:
 
«Erst wenn der ganze Süden Madagaskars mit Strom aus Solarenergie, Wasser aus Solarpumpen und Solarkochern versorgt ist, bin ich zufrieden.»

Der Preis der Brandenberger-Stiftung soll zu dieser Zufriedenheit beitragen. Er belohnt eine Lebensaufgabe in progress, ein Werk, das ohne die Person unmöglich gewesen wäre und mit dem ein ebenso einfacher wie wirksamer und umweltverträglicher Weg aus dem Elend gewiesen wird. Das muss das Kriterium für die Entwicklungszusammenarbeit sein, einfache Lösungen, die nachhaltig wirksam sind, weil sie auf die Probleme vor Ort zugeschnitten sind und die ganze Beratungsindustrie nicht brauchen. Mich hat die Idee beeindruckt, weil sie konkrete Hilfe liefert und Mass hält. Nichts an dem Projekt ist überrissen und man spürt die damit verbundene Leidenschaft, die aber nichts wäre ohne den Willen und den Sinn für das Machbare. Schliesslich sieht man, dass und wie die Solarenergie nicht nur unsere Zukunft bestimmen kann.

Frau Regula Ochsner, die Gründerin und treibende Kraft des ADES, erhält den diesjährigen Preis der Stiftung Dr. J. E. Brandenberger

«in Würdigung ihres grossen Einsatzes für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und die Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung durch eine wegweisende und beispielhafte Verbreitung der Nutzung der Solarenergie in Madagaskar».


Es musste etwas geschehen ...

Regula Ochsner

Wenn ich jetzt hier vor Ihnen stehe und diesen Preis entgegen nehmen darf, durchströmt mich ein grosses Glücksgefühl der Dankbarkeit, aber auch ein wenig Beschämtheit. Warum Beschämtheit? Weil ich daran denke, wie viele andere Menschen diesen Preis mehr als verdient hätten. Menschen, die sich über Jahrzehnte hinweg engagieren in irgendwelchen Projekten oder Missionsstationen in den abgelegensten Winkeln der Erde, oder die in der Schweiz ein ökologisch nachhaltiges Leben führen in aller Bescheidenheit.
Und wenn ich nun diesen Preis entgegen nehme, müssten mit mir noch viele andere Menschen hier vorne stehen, der Professor Daniel aus Madagaskar zum Beispiel, der uns dort zuallererst den Weg ebnete; Eduard Probst, von dem Sie noch hören werden; meine Mutter und die Vizepräsidentin, die mit mir zusammen die ersten Aufbauarbeiten der ADES gestartet haben. Und dann auch all die vielen Vorstandsmitglieder, Vereinsmitglieder und Freiwilligen, welche teilweise seit Jahren ihre freie Zeit der ADES schenken und sich mit Herzblut für unsere Arbeit hier in der Schweiz oder in Madagaskar engagieren. Ganz besonders hervorheben möchte ich Hans Peter Frei, Regina Gloor, Verena Carnielli, Liz Stallkamp, die teilweise fast ein Halbtages-Pensum inne hatten, und Heinz Vetter, der als Co-Präsident mithalf, ADES langsam auf einen professionelleren Weg zu bringen. Auch allen andern, welche an Standaktionen, Texten, Übersetzungen etc. im Kleinen mitwirken, gebührt grosser Dank. Und nicht zuletzt verdient mein Lebenspartner Peter ein ganz grosses Dankeschön, weil er bereit ist, mich immer wieder mit ADES zu teilen und mir viel Support zu geben.


Ganz herzlich möchte ich natürlich dem Stiftungsrat und der Preiskommission danken für diesen grossartigen Preis. Es ist für mich natürlich ein ganz grosses Geschenk und eine grosse Ehre, diesen Preis zu erhalten.
Der Preis ist ein Privileg, aber ich empfinde mein Leben, das ich wohlgeordnet in der Schweiz verbringen darf, generell als Privileg. Manchmal denke ich, dass ich ein Sonntagskind bin, obwohl ich — glaube ich — an einem Freitag auf die Welt kam. Und es ist für mich eine Selbstverständlichkeit, dieses Privileg mit denjenigen zu teilen, die vom Schicksal auf die Schattenseite des Lebens verwiesen wurden.

Das Leben in der Schweiz ist die eine Seite, die andere ist, dass ich gerade durch meine Aktivitäten in Madagaskar immer wieder menschlich so reich beschenkt werde; dass ich Erfahrungen machen darf und Dinge lernen kann, die mir sonst im Leben nie so zugeflossen wären. Und es beglückt mich auch ganz besonders zu sehen, dass es wirklich möglich ist, Visionen und Träume zu verwirklichen, wenn man die ganze Kraft investiert. Ähnlich, wie ich das manchmal beim Bergsteigen erlebe.

Entwicklung

Wie ist es überhaupt soweit gekommen, dass ich heute hier stehen darf?
Sicher haben meine Eltern mir zwei ganz wichtige Dinge mit auf den Lebensweg gegeben. Der Vater unterstützte mich bei ehrgeizigen Projekten immer, er forderte von uns Mädchen aber auch viel. «Das chan i nöd» — diesen Satz durften wir nie sagen. «Man kann alles, wenn man will» — das war seine Devise.
Meine Mutter lehrte uns das soziale Gewissen. Die Türe zu Hause war immer offen für Einsame oder Hilfesuchende. So entwickelte ich offenbar schon früh ein starkes Sensorium für Gerechtigkeit und Mitgefühl. Schon mit 16 Jahren leitete ich die Pfadiabteilung Stäfa-Hombrechtikon. Und ich denke heute manchmal, dass ich dort viel Rüstzeug geholt habe für meine heutige Tätigkeit. Allerdings war ich damals vermutlich viel strenger, als ich es heute bin. Ich glaube, die Freiwilligen würden heute auch davonlaufen, wenn ich mit ihnen so umginge.

Der Wendepunkt in meinem Leben war dann sicher der Einsatz für das Rote Kreuz in Ruanda. Damals wurde mir die Verantwortung für die Logistik und die Erfassung der ankommenden Flüchtlinge aus Burundi übertragen. Aus heutiger Sicht viel zu jung (gut 21 jährig), musste ich die ankommenden Lastwagen öffnen, die gefüllt waren mit Flüchtlingen — lebenden, aber oft auch sterbenden und schwer kranken —, um dann die weitere Versorgung zu organisieren. Spätestens in dieser Lebensphase war klar, dass wir (mein erster Mann und ich) uns bei der DEZA für ca. drei Jahre verpflichten wollten.

1972-1975 in Madagaskar

In einem Tal baute ich ein «centre animation rurale» auf, also ein Zentrum für ländliche Entwicklung resp. für Frauenförderung. Die Frauen erhielten Unterricht in Gartenbau, Hygiene, Ernährung und Nähen. Immer mehr wurde ich auch für die medizinische Betreuung von Erwachsenen und Kindern beigezogen.
Nach 3 Jahren standen wir dann vor der Entscheidung, entweder für immer in Afrika zu bleiben oder in die Schweiz zurückzukehren. Wir beide spürten, dass eine Rückkehr in die Schweiz kaum mehr möglich wäre, wenn wir noch länger geblieben wären. Nachdem wir während dieser Zeit fast keine Kontakte mit der Zivilisation, keine Weiterbildung, keine telefonischen Gespräche hatten, verspürte ich geradezu einen Hunger auf Bildung und drückte dann nochmals während drei Jahren die Schulbank.

30 Jahre Paar- und Familientherapeutin

An drei verschiedenen Orten habe ich 30 Jahre lang als Paar- und Familientherapeutin gearbeitet. Ein Beruf, der mich sehr erfüllte und ich hätte nie gedacht, dass ich je damit aufhören würde. Die grosse Belastung mit einer 60% Anstellung als Paartherapeutin und einem ungefähren 90% Pensum bei ADES war aber so gross, dass eine Änderung unumgänglich war. So arbeite ich seit einem Jahr als Geschäftsleiterin des Vereins ADES, nachdem ich zehn Jahre lang seine Präsidentin gewesen bin.

ADES Aufbau

Wie wir organisiert sind, ist für Sie aber nicht so interessant. Vor allem interessieren dürfte Sie, wie die ADES ins Leben gerufen wurde. Das kam so.

1998 reiste ich erneut nach Madagaskar, nach mehr als 30 Jahren. Ich traute meinen Augen kaum: wo früher noch üppiger Wald stand und sich Schildkröten, Chamäleone und Lemuren tummelten, war heute gähnende, trockene Leere. Es wurde viel zu viel Holz verbraucht, der Wald hatte keine Zeit mehr, sich zu erholen und nachzuwachsen. Etwas musste geschehen, sonst wäre Madagaskar schon sehr bald vollständig entwaldet. Ich suchte nach einer Möglichkeit, den massiven Holzverbrauch zu verringern. Weil die Leute das Holz vor allem zum Kochen brauchen, kam mir die Idee, ob man dazu nicht auch die Sonne nutzen könnte — die war ja ausreichend vorhanden. In der Stube von Edi und Verena Probst in Höllstein reifte die Idee es zu versuchen. Ende 2000 starteten wir — unter einem Partyzelt in Tuléar — mit der Herstellung von Solarkochern.

ADES heute

Heute betreibt ADES in Madagaskar 4 Zentren mit Werkstätten und Ausbildungsräumen. Wir geniessen eine hohe Akzeptanz und Unterstützung, bei den Regierungsstellen und der Bevölkerung, sogar bis hin zum Staatspräsidenten.

Jedes Jahr konnte die Produktion von Solarkochern gesteigert werden, heute haben wir Serienproduktion. Wir sind seit kurzem mit dem Goldstandard für Klimaprojekte zertifiziert und stehen kurz davor, die ersten CO2 Emissionszertifikate zu verkaufen.

Wichtig sind für ADES auch die Ausbildungsprogramme speziell für Frauen, denn es sind fast immer die Frauen, die neue Ideen in die Dörfer tragen und sie weiterverbreiten.

Der Solarkocher kann frühmorgens nicht genutzt werden. Auch nicht alle Madagassen können wir bereits für das Kochen mit der Sonne motivieren. Darum haben wir als Alternative und in enger Zusammenarbeit mit lokalen Handwerkern 2 verschiedene Energiesparöfen entwickelt. Diese Öfen sparen im Vergleich zum traditionellen Kochen am offenen Feuer immerhin noch 50-80% Holz. ADES, das ist — wie Sie nun wissen — die «Association pour le Développement de l'Energie Solaire». Wir fördern also nicht nur das solare Kochen, sondern die Solarenergie im Allgemeinen. Darum haben wir in Kooperation mit der deutschen Entwicklungszusammenarbeit das Fischerdorf St. Augustin mit Sonnenenergie ausgerüstet. (150 Haushaltungen, das Spital, die Schule und der Markt bekamen elektrisches Licht und den Zugang zu Radio.) Auf diese Pionierleistung sind wir sehr stolz.

Sie sehen: ADES hat sich in den letzten zehn Jahren gut entwickelt. Aber wir wollen nicht stehen bleiben, wir wollen vorwärts gehen. Was planen wir für morgen?

Ein wichtiges Projekt sind Solarkocher für Schulen, damit die Kinder am Mittagstisch versorgt werden können. Überhaupt haben Schulen für die Arbeit der ADES einen hohen Stellenwert: wir entwickeln für die Lehrpersonen Schulpro-gramme, damit sie den Kindern an den Schulen Umweltbildung erteilen können.

Geplant ist auch ein Café Solaire, ein Infozentrum für erneuerbare Energie und nicht zuletzt wollen wir ein fünftes Zentrum in Mahajanga eröffnen.

Abschlussdank

Seit der Mitteilung der Preisverleihung hat mich der Gedanke an die Preisverleihung immer wie-der beflügelt und ich habe viel daran gedacht. Jetzt ist dieser grosse Moment gekommen und mein Herz ist voller Dankbarkeit dem Stiftungs-rat und der Preiskommission gegenüber. Sie er-möglichen uns, dass wir uns weiterhin für den Tropenwald und die Biodiversität engagieren können. Und sie sorgen auf diese Weise dafür, dass unser wunderbarer Planet mit seinem Pflanzen- und Naturreichtum eine Chance hat zu überleben.