Marcel Tanner

portrait tanner

33. Preisverleihung 2023
der Stiftung Dr. J. E. Brandenberger
am 25. November 2023 in Bern

 

«Politik und Wissenschaft: Schaffen von Mehrwert durch zielführenden Dialog»

Die Stiftung Dr. J.E. Brandenberger zeichnet jährlich eine Preisträgerin oder einen Preisträger mit dem mit CHF 200'000 dotierten Preis aus und will damit Persönlichkeiten würdigen, die sich für die Förderung und den Erhalt der humanitären Kultur eingesetzt haben.
Der Preis 2023 wurde an Professor Marcel Tanner verliehen, der durch sein Schaffen einen zielführenden Dialog zwischen Politik und Wissenschaft und damit nutzbringende Lösungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen ermöglicht hat.

Marcel Tanner beendete sein Studium der Biologie an der Universität Basel 1979 mit einer Dissertation über die Afrikanische Schlafkrankheit. Zwei Jahre später übernahm er die Leitung des Feldlabors des Swiss Tropical und Public Health Institute (Swiss TPH) in
Tansania, das er mit lokalen Partnern zu einem tansanischen Forschungs- und Public Health Institut kontinuierlich ausbaute. Zurück in Basel und nach einem «Public Health Studium» in London wurde ihm der Aufbau des Departements «Gesundheitswesen & Epidemiologie» übertragen.

Marcel Tanner förderte Forschung und Entwicklung von der Innovation über die Validierung wissenschaftlicher Resultate bis zu deren Umsetzung in zahlreichen Gesundheitssystemen. Unter seiner Leitung als Direktor (ab 1997) entwickelte sich das Swiss TPH zu einem weltweit anerkannten Institut der Globalen Gesundheit. Marcel Tanner und sein Team spielten eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von Impfstoffen gegen Malaria und den sogenannten Public Private Partnerships (PPPs), welche die Entwicklung neuer Therapien gegen Armutskrankheiten initiierten und förderten. Marcel Tanner war ordentlicher Professor an der Universität Basel und dort auch Dekan der philosophisch-naturwissenschaftlichen Fakultät und ist Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz.
Bis heute stellt er seine Expertise zahlreichen nationalen und internationalen Gremien zur Verfügung.

«Die Bevölkerung hat einen Anspruch darauf, dass man ihr komplexe Vorlagen erläutert. Und dazu braucht sie insbesondere Wissenschaftler, die nicht nur Wissen in den Universitäten, sondern auch Verständnis in der Bevölkerung und Kontext in den Medien schaffen. Marcel Tanner hat genau das getan» sagte der Bundeskanzler Walter Thurnherr in seiner Laudatio.

In seiner Ansprache betonte der Preisträger, dass er sich sein Leben lang vom Motto «no roots, no fruits» leiten liess. Nur wer wisse, wo er herkommt, wisse wo er hingeht!

«Die Preiskommission - geleitet von Fritz Schiesser - und der ganze Stiftungsrat freuen sich, Marcel Tanner mit dem Preis 2023 der Stiftung Dr. J.E. Brandenberger auszuzeichnen» sagt Stiftungsratspräsidentin Monica Duca Widmer, «weil er mit seinem der Humanität verpflichteten Wirken sowie seines langjährigen Einsatzes für den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wissenschaft zur Verbesserung der Lebensbedingungen vieler Menschen beigetragen hat.»

Es ist das 33. Mal, dass dieser hochdotierte Preis verliehen wird. Irma Marthe Brandenberger hat zum Gedenken an ihren Vater, Dr. J.E. Brandenberger, Erfinder des Cellophans, die Stiftung errichtet und als Zweck festgelegt, dass Personen ausgezeichnet werden sollen, die sich um die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen verdient gemacht haben. Unabhängig von Geschlecht und konfessioneller oder politischer Überzeugung, sollen Leistungen auf dem Gebiet der Natur- und Geisteswissenschaften, der Sozialarbeit, der Förderung und der Erhaltung der humanitären Kultur prämiert werden.

Die Preisverleihung hat am 25. November 2023 in Bern stattgefunden.

Für Rückfragen: Monica Duca Widmer, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!,  mobile: 079 337 01 19

 

 

Laudatio zugunsten von Prof. Marcel Tanner von Bundeskanzler Walter Thurnher

«It is generally foolish to bet against the

judgements of science, and when the

planet is at stake, it is insane»
Steven Weinberg

 

 

Eine Demokratie, in der die Wahrheit nicht mehr zählt, ist angezählt.

 

Sehr geehrte Frau Stiftungspräsidentin
Sehr geehrter Herr Preiskommissionspräsident
Meine Damen und Herren
Lieber Marcel

Zu den schlummernden, dann aber selbst nach Jahrzehnten plötzlich wieder ins Bewusstsein drängenden und in diesem Sinn prägenden Erinnerungen meiner Jugend gehören die Filme von Frederico Fellini, die wir im Dorfkino als Teil eines erweiterten Schulunterrichts gratis anschauen konnten. Fellinis Humor faszinierte mich schon seiner scharfsinnigen Formulierungen wegen: "Rom ist ein Friedhof, der strotzt vor Leben». Oder: «Das Leben ist eine Kombination von Magie und Pasta» - «La vita è una combinazione di magia e pasta”. Oder: “Zweifle nie am Urteil deiner Frau. Immerhin hat sie ein Genie geheiratet».

Einer der tiefgründigsten Filme Fellinis war «La prova d’Orchestra», die Orchesterprobe. Darin werden die Mitglieder eines Orchesters bei einer Probe vom Fernsehen interviewt. Jeder rühmt sein eigenes Instrument über alle Massen und spottet über die anderen. Die Klarinette ist nichts gegen die Trompete. Das Piano wichtiger als die Geige. Der Kontrabass unverzichtbar und bedeutender als alle anderen. Immer wieder kommt es zu Zwischenrufen. Bald ist die Probe ein Chaos, während sich draussen eine gewaltige Abrissbirne dem Proberaum nähert und schliesslich auf einen Schlag mit grosser Wucht und Zerstörung alles verändert. Erst jetzt kommen die Instrumentalisten zur Besinnung.

Die Pandemie von 2020 und die Welt von 2023 gleichen dieser Orchesterprobe. Eigentlich könnte die Staatengemeinschaft ein Orchester sein, aber sie präsentiert sich wie ein zerstrittener Haufen eitler Solisten. Offenbar bedarf es einer Katastrophe, um uns dies wieder bewusst zu machen. Mit jeder Generation wird die Abrissbirne grösser. Kaum sind wir an einer Katastrophe vorbeigeschrammt, droht ein noch grösseres Unheil.

Als Marcel Tanner Direktor des Schweizerischen Tropeninstituts war, arbeitete ich Ende der 1980er-Jahre als junger Diplomat in Moskau. Die Welt war eine andere. Vieles war in Bewegung. Zuerst langsam, dann immer schneller. Über die letzte Phase der Sowjetunion schrieb ein russischer Historiker später ein Buch, das in den USA erschien und dessen Titel heute auch für die Stimmung im Westen stehen könnte. Das Buch trug nämlich die Überschrift: «Everything was forever, until it was no more». Und auf der ersten Seite stand der Satz: «A peculiar paradox became apparent in those years: although the system’s collapse had been unimaginable before it began, it appeared unsurprising when it happened».

Mit anderen Worten, der Bruch war überraschend und absehbar zugleich. «Although it had been unimaginable before it began, it appeared unsurprising when it happened». Und bekanntlich waren auch die Krisen der Gegenwart nicht unangekündigt, weder die Klimakrise, noch die Pandemie oder der Krieg in der Ukraine. Wir waren sehr lange unbehelligt auf einem Fussweg unterwegs, der parallel zur Landstrasse unruhiger Jahrzehnte verlief. Dann führte der Weg auf die Hauptstrasse, und plötzlich stehen wir mitten im Verkehr. Plötzlich wird allen bewusst, welche Lektionen das Unerwartete und das Verdrängte dem skeptisch-verschlafenen Dahinwursteln erteilt haben. Und auf einmal werden Grundsätze in Frage gestellt, die vorher als gesichert galten. Die Welt ist eben nicht nur geopolitisch gespalten. Sie wird unaufhörlich heimgesucht von neuen Kriegen und Katastrophen, sie ist voll von verarmten oder flüchtenden Menschen, sie ist überreizt, fahrig, fiebrig und unberechenbar, und sie ist geprägt von Gesellschaften, die sie sich nur noch über jene einig sind, die sie hassen. Und je grösser die Dringlichkeit zu handeln, oder nur schon die Empfindung der Dringlichkeit, jetzt handeln zu müssen - Sie haben das etwa in der Pandemie erlebt, oder Sie sehen es in der Debatte über den Klimawandel - desto geringer ist das Verständnis für elementare Grundsätze und Grundwerte, ohne die keine Demokratie funktionieren kann. Über eine dieser Grundvoraussetzungen möchte ich heute sprechen, nämlich über den Stellenwert der Fakten in einer Demokratie, und weshalb es dafür Wissenschaftler wie Marcel Tanner braucht.

Die erste Frage ist leicht zu beantworten: Wie wichtig sind Fakten, und was wird mit ihnen angestellt? Darüber ist seit langem viel geschrieben worden. Vor zwanzig Jahren eröffnete Harry G. Frankfurt sein inzwischen berühmt gewordenes Büchlein mit dem Satz: «One of the most salient features of our culture ist hat there is so much bullshit».

Die Schrift mit eben diesem Titel: «On Bullshit» fährt dann allerdings fort mit der Beobachtung: «Most people are rather confident of their ability to recognize bullshit and to avoid being taken in by it». Heute sind wir da nicht mehr so sicher - und das nicht nur, weil wir täglich aufs Neue erfahren, wieweit das Internet eben keine Bibliothek wissenschaftlicher Fakten, sondern eine Deponie von Meinungen, Fälschungen, Lügen und ja, auch Fakten ist.

Natürlich ist nicht immer klar, was Fake ist, und was Fakt, oder Irrtum. Selbst Wissenschaftler täuschen sich. Sie schreiten voran, indem sie ihre Irrtümer überwinden. Beispiele? Aristoteles war überzeugt, dass ausschliesslich der Mann sich vermehrt. Die Frau gebäre nur, sie sei «der Boden, in dem die Pflanze wächst» (!). Blaise Pascal fand, negative Zahlen wären ein völliger Blödsinn. Johannes Fibiger erhielt 1926 den Nobelpreis für seine Entdeckung, dass Krebs durch Fadenwürmer erzeugt wird, und George-Louis Marie Leclerc, Comte de Buffon (der mit Buffons Nadel), vertrat als erster die These der Evolution – einfach anders herum: Er glaubte nicht, dass der Mensch vom Affen abstammt, sondern dass sich der Mensch zum Affen weiterentwickle. Bei diesem letzten Beispiel bin ich allerdings noch nicht sicher, wer am Schluss recht behalten wird.

Im Übrigen irren sich auch Politiker, und wir müssen, um den Beweis dafür anzutreten, nicht bis zur dümmlichen Bemerkung des US-Vizepräsidenten Dan Quayle zurückgehen, der auf die ihm eigene Art erklärte: «I believe we are on a an irreversible trend toward more freedom and democracy – but that could change». Heute ist auch nicht der Irrtum das Problem, sondern das bewusste und unverschämte Lügen, das opportunistische Faktenverdrehen, und der fanatische Hass, der sich gegen alle richtet, die mit belegbaren Fakten dagegenhalten.

Wie gesagt, natürlich ist nicht alles eindeutig, bzw. nicht schwarz oder weiss. Aber nur, weil nicht immer alles klar ist, ist nicht nichts klar. Es gibt Fakten. Die Erde ist nicht flach, sondern einigermassen rund. Die Schweiz ist nicht eine Diktatur, sondern einigermassen demokratisch. Und die Klimaveränderung ist nicht ein Schwindel, sondern einigermassen belegt.

Wenn sich die Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie nicht mehr auf überprüfbare Fakten stützen können, wenn der Unterschied: «wahr oder nicht wahr» immer häufiger durch die blutleere Beliebigkeit: «deine Meinung, meine Meinung» ersetzt wird, und wenn das eine oder andere politische Argument nicht durch eine wissenschaftliche Erkenntnis belegt oder widerlegt werden kann, ohne dass einem einer frech lachend ins Wort fällt und sich über die Wissenschaftler lustig macht, muss man höllisch aufpassen.

Eine Demokratie, in der die Wahrheit nicht mehr zählt, ist angezählt. Sie wird nicht lange weiterleben. Die Wissenschaft ist für uns eben nicht nur eine Voraussetzung für Innovation und für wirtschaftlichen Wohlstand. Die sogenannt wissenschaftliche, eigentlich vernünftige Methode - zu testen, was behauptet wird und vorläufig zu akzeptieren, was sich zum gegenwärtigen Stand des Unwissens als gültig oder als falsch erwiesen hat, darauf aufbauend neue Fragen zu stellen und diese wiederum zu testen, um laufend die eigenen Vorstellungen an der Realität zu messen, statt die Realität zu verweigern, weil sie nicht zu den eigenen Ideen passt – diese Methode, die davon ausgeht, dass neben allen berechtigten Meinungsunterschieden auch Fakten bestehen, mit denen man einen Teil dieser Differenzen prüfen und allenfalls auch klären kann, die ist genauso wichtig im politischen Diskurs offener Gesellschaften wie in den Labors erfolgreicher Universitäten.

Meine Damen und Herren, wir leben in einem Umfeld, in dem wir die meisten Geräte nicht mehr verstehen, die wir einschalten, und wir regulieren Technologien, die wir nicht mehr überschauen. Die Feststellung von G. K. Chesterton ist hundertjährig: «We are learning to do a great many clever things… The next great task will be to learn not to do them». Es dünkt einen, die Mahnung ist aktueller denn je.

Wenn wir in einer Demokratie Gesetze zu komplexen Geschäften entwerfen, beraten und allenfalls dem Volk vorlegen, dann empfiehlt es sich, wenigstens jene Fakten zu kennen, die als gesichert gelten, und sich von jenen Fachleuten über die Risiken oder die Chancen informieren zu lassen, die sich täglich damit auseinandersetzen. Oft sind das Wissenschaftler. Und damit kommen wir zur zweiten, schwierigeren Frage: «Wie verbessert man den Dialog zwischen Politik und Wissenschaft?»

Nicht nur, aber auch die Pandemie hat gezeigt, dass dieses Verhältnis verbessert werden kann. Zu spät und zu lang wie Fellinis Orchesterprobe war das Krisenmanagement. Erst am 30. März 2020 – die erste Welle war bereits am Abklingen – unterzeichnete der Bund ein Mandat für eine wissenschaftliche Beratung. Am Schluss der Pandemie lief es ganz ordentlich, aber am Anfang war es schwierig. Das Einzige, was schnell zur Hand war, waren die Vorwürfe: Das BAG habe keine Ahnung, die Wissenschaftler seien noch eitler als die Politiker, für den Nationalrat gelte statt einer «evidence based policy» eine «policy based evidence», die Wissenschaftler seien noch eitler als die Journalisten, das BAG habe immer noch keine Ahnung etc. etc.. Aber die Gründe lagen tiefer unten: Die Politik und die Wissenschaft lebten in verschiedenen Welten, sie sprachen verschiedene Sprachen und meinten etwas anderes, selbst, wenn sie dasselbe sagten. Und deshalb verstanden sie einander nicht. Nicht alle, und auch nicht immer, aber so oft und zuweilen so deutlich, dass alle merkten: hier besteht ein Handlungsbedarf.

Eine Ausnahme war Professor Marcel Tanner, der – wie mir schien – im geschwätzigen Chaos der ersten Monate stets einen kühlen Kopf bewahrte. Vielleicht lag das an seiner Erfahrung, vielleicht an seiner Basler Herkunft, an seinem Gensatz oder an seiner Erziehung. Aber mich dünkte von Anfang an, dieser Tanner spricht öffentlich wie ein Fahrlehrer, der neben seinem nervösen Fahrschüler sitzend nochmals ruhig die Grundsätze einer Gangschaltung durchgeht, auch wenn das Auto mitten auf der Kreuzung stehen bleibt. Während andere sich mit viel Eitelkeit und Fachterminologie in Szene setzten, setzte sich Marcel oft an denselben Holztisch, hinter ihm dieselben zwei Flaschen Rotwein, vor ihm nichts, und erklärte in kurzen, schlüssigen Sätzen, was wir wissen und was wir nicht wissen.

Ich habe in meinen Jahren als Bundeskanzler, und auch zuvor, viel mit Experten zu tun gehabt. Hervorragende Persönlichkeiten, beeindruckend intelligent, oft bescheiden, oder dann eben nicht. Und bei den allermeisten spüren Sie als Zuhörer relativ schnell, ob einer erklären kann. So zu vereinfachen, dass man es versteht, aber auch so, dass es noch stimmt. Eigentlich sollte die Ambition des beratenden Wissenschaftlers ja darin bestehen, die Zusammenhänge so zu erklären, dass der Zuhörer nachher klüger ist, und nicht, dass der Zuhörer erkennt, wie klug der Experte ist. Bei Marcel Tanner war das nie das Problem, höchstens, dass er zur Beantwortung einer konkreten Frage in meinem Büro oder am Telefon zuerst bei irgendeiner Seuchenbekämpfung in Kamerun oder mit einer Anekdote aus Tansania begann und man sich nach zehn Minuten ungeduldigem Warten auf die eine konkrete Antwort beim fragenden Gedanken erwischte: «Warum hat der Mann eigentlich nie eine Autobiographie geschrieben?». Aber wer seine Interviews gelesen hat, oder auch heute nachliest, der sieht gut: Erklären kann er.

Darüber hinaus: Ein guter Experte ist kein Fachidiot. Oder wie Georg Lichtenberg einmal feststellte «Wer nichts als Chemie versteht, versteht auch die nicht recht». Dass Marcel Tanner kein Fachidiot ist, hat er in seinem Leben hundert Mal bewiesen. Und in einer Krise, in einer Demokratie, kann es matchentscheidend sein, dass nicht nur Fachidioten herumstehen. Denn hierzulande müssen Sie – Notrecht hin oder her – mit der Mehrheit politisieren. Sie müssen erklären und überzeugen können. Ich weiss, dass man sich zuweilen zynisch über die Kompetenzen der Bevölkerung äussert. Wer in der Schweiz etwas weiss, bedauert zuerst das Halbwissen der anderen. Als ich in den USA einmal über «direkte Demokratie» sprach, erzählte man mir von Governor Adlai Stevenson, der in den 1950er-Jahren Präsident werden wollte und von einem Anhänger mit den Worten unterstützt wurde: «Every thinking person in America will be voting for you». Worauf Stevenson antwortete: «I’m afraid that is not enough – I need a majority».

Aber ich bin sicher, ohne direkte Demokratie wäre die Schweiz schon ein paar Mal auseinandergeflogen. Das heisst, die Bevölkerung hat einen Anspruch darauf, dass man ihr komplexe Vorlagen erläutert. Und dazu braucht sie insbesondere Wissenschaftler, die nicht nur Wissen in den Universitäten, sondern auch Verständnis in der Bevölkerung und Kontext in den Medien schaffen. Marcel Tanner hat genau das getan: Er warnte schon früh vor den längerfristigen Schäden der Pandemie, an die mentale Gesundheit, den Stress, an Long Covid. Er erinnerte an die Ebola-Epidemie 2014 und stellte den Zusammenhang her zwischen der Covid Impfung und jener gegen Malaria. Er blieb nüchtern, auch wenn er angefeindet wurde. Und er formulierte kritisch und treffend: «Das Problem ist, dass gute wissenschaftliche Leistungen oft Gruppenleistungen sind.... Die Wissenschaft honoriert zu sehr die Selbstprofilierung. Das führt dazu, dass Wissenschaftler, wie das auch Politiker tun, eher in den Spiegel schauen als zum Fenster hinaus». Klammer: Ich halte mich hier zurück… und zitiere nicht nochmals Lichtenberg, der meinte, wenn ein Affe in den Spiegel hineinguckt, könne kein Apostel herausschauen.

Marcel Tanner hat sich schon vor der Pandemie für einen verbesserten Austausch zwischen Wissenschaft und Politik sowie für weniger Silowissenschaft ausgesprochen. Er hat es erst recht während und nach der Pandemie getan. Er hat wesentlich dazu beigetragen, dass wir nach vielen gemeinsamen Aussprachen und Absprachen nächstens mit einem umfangreichen Antrag in den Bundesrat gelangen können, um den Dialog zwischen Politik und Wissenschaft in der Krise neu aufzugleisen. Marcel Tanner ist ein Mann der Wissenschaft und der Fakten. Ein kluger Mann. Aber auch ein Menschenfreund. Und ein sehr würdiger Preisträger für die diesjährige Auszeichnung der Stiftung Dr. J.E. Brandenberger. Und hätte er bei Fellinis Orchesterprobe mitgemacht, er wäre bereits nach kurzer Zeit an das Dirigentenpult geschritten, hätte den Stab in die Höhe genommen und ganz ruhig in seinem Basler Dialekt gesagt: «So, jetzt probiere mers nonemol alli mitenand!»

 

Brandenberger-Preis - Dank Marcel Tanner: 25. November 2023

Notizen zur kurzen Dankesrede

Sehr geschätzte Präsidentin, sehr geschätzter Herr Bundeskanzler, geschätzte Präsidenten, Professoren, Direktoren, liebe Familienmitglieder, Freundinnen und Freunde sowie sehr geehrte Damen und Herren

-    Danke sehr für diese grosse Ehre, die mich enorm überrascht, ja überwältigt hat, tief berührt und auch sehr freut…eine Stimmung wie, «…Wasser von Klippe zu Klippe geworfen…» (Hölderlin, Schicksalslied, Hyperion), aber tiefst berührend.

-    Ungewöhnlich für Sie vielleicht, möchte ich aber zunächst – vor einigen weiteren Worten – meinen Dank ausbauen…Es sind nämlich Sie alle, aber insbesondere meine liebe Frau Suzanne und meine ganze Familie und der engste Freundeskreis, die mich stets getragen, ermutigt haben und vor allem mitgemacht haben beim Vorangehen…und – ohne aufzugeben – stets versucht haben mit unser aller Expertise und Erfahrung einen kleinen Beitrag für eine bessere Welt zu leisten.– ein riesengrosses MERCI! Und ich weiss nur zu gut, dass dieses Engagement oft auch zur Vernachlässigung der Nächsten und Liebsten führen kann Das ist keine Ausrede oder flache Entschuldigung, sondern nebst den vielen freudigen Erfahrungen auch eine schmerzliche, die mir sehr leidtut.

-    Und schliesslich im grösseren Kreis auch an Sie alle, liebe Anwesende des Swiss TPH, der Akademien, der Universität Basel, anderer Universitäten, Vertreter: innen der BFI-Trägern sowie viele andere, die nicht hier sein können auf der ganzen Welt, die dieses Miteinander auf verschiedenen Ebenen mitgelebt haben und noch immer mitleben. DANKE also Ihnen / Euch allen…dieser Preis ist eigentlich unser aller Preis…

-    Was gibt es dazu noch zu sagen? Gerade in der Zeit, wo es derart viele Wolken am Himmel hat - die Kriege und damit verbundenen Leiden, die grossen ungelösten Fragen – die uns das Gefühl verleihen, wir seien wieder zurück auf Feld eins. Einige Punkte in diesem Kontext möchte ich mit Ihnen kurz teilen.

-    Bewusst verzichte ich auf eine Powerpoint-Präsentation – Sie werden hören weshalb. Gehen wir zurück zu meinem Schlüsselerlebnis: Kamerun 1979. Meine erste Forschungsreise nach Afrika, um konzentriert an einem Problem zu arbeiten – der verbesserten Diagnostik der Flussblindheit, Onchozerkose. Täglich gingen wir – der leider bereits verstorbene Niklaus Weiss und ich - zusammen mit mobilen chirurgischen Equipen in die Dörfer Westkameruns und sammelten die adulten Onchoerken aus den Hautknoten und die lokalen Ärzte behandelten die Betroffenen. Ethisch korrekt, aber wir sahen nur unsere Würmer und den Test und nicht den grösseren Kontext, d.h.  alle anderen Probleme dieser Menschen in diesen Dorfschaften von Gesundheitsfragen bis hin zur Bildung, Ernährung und Landwirtschaft.  Diese Eindrücke und Einblicke, gaben mir die Ausblicke mich fortan, über die Infektionsbiologie hinaus in Richtung Epidemiologie und Public Health (heute Global Public Health) zu entwickeln; also fortan hatte ich das Privileg und Freude Forschung, Lehre und Umsetzung in verschiedenen Systemen und Kulturen in Afrika, Asien, im Pazifik und Europa zu leben.
-    Etwas im Sinne des Preises konnte ich den Beitrag, den Sie sich entschlossen haben auszuzeichnen, nur leisten - vor allem in den Ländern des globalen Südens, wenn man die Menschen trifft, sich Zeit nimmt für Gespräche und Erlangen eines gemeinsamen Verständnisses für Fragestellungen und Vorgehen. Es ist - so meine Erfahrung – das kreative Zuhören, die Kommunikation – nicht das «klassische Expertentum», das Forschung und Umsetzung über Systeme und Kulturen hinweg möglich macht. Dadurch wird auch der effektive Dialog zwischen Wissenschaft und Politik wie auch Gesellschaft getragen UND führt zu Veränderungen.
-    Und, wo hört man kreativ zu? Unter dem Baum (in Afrika der Baobab, in Asien der Banyan-Baum) am Dorfplatz, bei uns am Stammtisch (deshalb keine Powerpoints) und da wurde nicht nur das afrikanische Sprichwort deutlich: «…willst Du schnell gehen, dann gehe alleine, willst Du weit gehen, dann gehe zusammen…», sondern vor allem eben auch, dass humanitäres Wirken und die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik/Staat und Gesellschaft nur durch «miteinander Lernen, um zu verändern…» (mutual learning for change) möglich ist. Erkenntnisse weit bevor wir die Covid-Pandemie erleben mussten und wir nun beim Aufarbeiten solches folgern…Das Lernen wir nicht erst jetzt, sondern durften das schon lange zuvor und zwar in verschiedenen Situationen und vor allem aus den Erfahrungen in ärmeren Ländern…nicht «reverse innovation», sondern eben einfach miteinander lernen…Die Lernschwäche finden wir deutlich vor allem in affluenten Ländern, also dort, wo «…es uns zu gut geht».

-    Auf dieser Basis des mutual learning for change haben wir viele Geschichten unter dem Baobab oder Banyan-Baum ausgetauscht, die uns bereichert haben und sicher für den heutigen Moment und in den Kontext der Worte von Fritz Schiesser und Walther Thurnherr sowie unseren Weg passen:

-    Hier noch einige Geschichten, an die ich mich spontan erinnerte, als ich die Laudatio von Walter Thurnherr hörte:

-    Da wäre mein Jagdkumpan. Mitarbeiter in Tansania, Ambros Mganda, der erste Mitarbeiter im damaligen Feldlabor des Swiss TPH (seit 1996 das tansanische Ifakara Health Institute) des Gründers des Swiss TPH, Prof. Rudolf Geigy. Er animierte und leitete mich auf der Jagd. Wichtigste breite Lehre, nicht nur für das Jagen, war, dass wir Europäer stets den weiten Horizont anpeilen, Ziele zu weit in der Ferne suchen so Visionen aufbauen…bei der Jagd ist der Blick auf mittlere Distanzen erfolgsversprechend – dann sind wir erfolgreich…ich habe diese Jagdweisheit in meiner Arbeit bei allen Strategien angewandt – danke Mzee Ambros!  

-    Zu den Baum- und Jagdgeschichten passt auch, dass wir nicht nur Risiken / Vulnerabilität / Verwundbarkeit sehen, sondern aus dem Konzept der Resilienz mehr lernen – gerade in den schlimmsten Situationen. Denn: geht es allen Menschen schlecht und die Verhältnisse sind schlimm, dann lernen wir indem wir sehen, weshalb es trotz der allgemein miesen Situation einigen Menschen und Haushalten besser geht…durch Vergleiche, indem wir auf die Resilienz achten.

-    Dazu gehört schliesslich auch die Baumgeschichte der «Magic Bullet – Magic Gun», das heisst der Zauberschlag alleine genügt nicht, wir müssen die Bevölkerung erreichen. Also, die Wirksamkeit eines Medikaments in einem klinischen Versuch aufzeigen ist der Zauberschlag, die Magic Bullet, aber wir brauchen das Magic Gun, die Gesundheits- und Sozialsysteme, die diese Wundermittel zur Anwendung und Wirkung in die Bevölkerung tragen und zwar verteilungsgerecht. Verteilungsgerechtigkeit heisst letztlich vor allem auch Sensibilität für den Kontext... das durfte ich in den letzten 44 Jahren tun Lehre-Forschung – Dienstleistung (Umsetzung)…und das wiederum führt uns zur:

-    Wertschöpfungskette: Auch da bin ich sehr dankbar, dass ich stets das Privileg und Freude am Arbeiten entlang der Wertschöpfungskette von Innovation bis hin zur Umsetzung arbeiten durfte/musste, was automatisch zum iterativer Prozess im Dialog Wissenschaft-Politik/Gesellschaft (W-P-G) und zur Rolle der Wissenschaft führte: Was wir wissen und was wir nicht wissen, daraus entsteht die Wahrscheinlichkeit und aus dem lassen sich wiederum Handlungsoptionen ableiten. Die Wissenschaft erreicht ihren Einfluss und Stellung durch policy relevant statements und nicht durch policy prescriptions. Das war schon weit vor der Pandemie ein tiefes, auf Erfahrungen von unter den Bäumen beruhendes Anliegen der Akademien (der Wissenschaften Schweiz?) und Grundlage zum Sichern der Wissenschaftskultur in unserem Land und weltweit.  

-    Es fehlt nach den Baumgeschichten noch eine Geschichte aus der Schweiz – von unseren Stammtischen. Hier inspiriert mich immer wieder, das allen wohl bekannte Bild der Gotthardpost (Koller 1873), das neben dem Bildnis unseres Generals Guisan oft bei Stammtischen strahlt und wir uns immer fragen was es denn mit der Gotthardpost, die durch die Kuhherde braust, auf sich hat. Peter von Matt hat das in seinem «Kalb von der Gotthardpost» (2012) treffend formuliert. So etwa «Wer nicht weiss, wo er herkommt, weiss nicht wo er hingeht und wer der Vergangenheit zu sehr verhaftet ist, ist für die Zukunft nicht offen»…auch das Geschichten und Beobachtungen, die uns tragen.

Ja, so kommen wir zum Schluss – Sie mögen nun denken, all diese Geschichten sind bloss Serien banaler Weisheiten – doch für mich sind es Wege zur Reduktion der Komplexität. Und ich versuche es für mich immer mit den Inspirationen, die uns die naive Malerei weltweit gibt und für mich auch Verbindungen zu Teilhard de Chardin und Paul Klees Farbenlehre schafft: Es geht nicht darum, etwas Grossartiges zu leisten, sondern einzig darum die ganz gewöhnlichen Dinge in Anerkennung ihres inneren Wertes zu tun. Daraus entsteht Grossartiges.
Nochmals danke ich Ihnen allen für diese grosse Ehre...für mich eine grosse Freude, trotz der vielen Aufgaben, die gerade dieser Tage auf uns warten, mit Euch/Ihnen ein bisschen zu feiern. Unsere gemeinsame Arbeit geht weiter...wir geben ja nie auf! Und gerade mit diesem Ausblick freue ich mich mit Ihnen / Euch allen anzustossen!


Bern, 25. November 2023

 

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